03.11.2015  Allgemein

Gemeinsamer Appell zur Suizidhilfe: Für die Freiheit des Gewissens

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

am Freitag, 6. November, findet die 2./3. Lesung der Gesetzentwürfe zur Sterbehilfe statt. Anders als im üblichen Abstimmungsverfahren, in dem über unterschiedliche Gesetzentwürfe einzeln abgestimmt wird, erfolgt die Abstimmung bei der Sterbehilfe mit einem Stimmzettel, auf dem jede/r Abgeordnete für einen der vier Gesetzentwürfe oder insgesamt mit „Nein“ oder „Enthaltung“ zu allen Entwürfen stimmen kann. Jede/r Abgeordnete hat pro Abstimmungsgang eine Stimme, wobei Stimmenthaltungen immer ersatzlos wegfallen. In der Schlussabstimmung (3. Lesung) wird der Gesetzentwurf mit den meisten Stimmen nur dann angenommen, wenn er mehr Ja-Stimmen auf sich vereinigt als Nein-Stimmen.

Wenn die Nein-Stimmen die Mehrheit bilden, bleibt es bei der bestehenden Rechtslage.

 

Wir – die Initiator*innen der beiden Gesetzentwürfe von Hintze/Wöhrl/Dr. Reimann/Prof. Lauterbach/Lischka sowie von Künast/Dr. Sitte/Gehring – haben die große Sorge, dass eine Neukriminalisierung der bislang straflosen Suizidhilfe Ärzte in die ernsthafte Gefahr der Strafverfolgung bringt und das gerade am Lebensende so wichtige Arzt-Patienten-Verhältnis zerstört. Gemeinsam mit der Ärzteschaft, der überwältigenden Mehrheit der deutschen Strafrechtslehrer*innen und der großen Mehrheit in der Bevölkerung sind wir deshalb gegen jede Strafverschärfung im Bereich der Sterbehilfe. Der Wunsch eines qualvoll Sterbenden nach Suizidassistenz wird durch unsere Gesetzentwürfe abgesichert. Auch eine Beibehaltung der geltenden Rechtslage würde diesem Ziel dienen.

Eine Strafbarkeit der „geschäftsmäßigen“ Suizidhilfe, wie sie der Gesetzentwurf Brand/Griese vorsieht, führt dazu, dass Ärzt*innen, die eine Vielzahl tödlich erkrankter Patienten behandeln und nur in sehr wenigen Ausnahmefällen Suizidhilfe leisten, künftig mit staatsanwaltlichen Ermittlungen rechnen müssen. Dies betrifft insbesondere Palliativmediziner und Onkologen. „Geschäftsmäßig“ handelt, wer – auch ohne finanzielle Interessen – mit Wiederholungsabsicht handelt. Eine Wiederholungsabsicht kann bereits bei einer einmaligen Suizidhilfe unterstellt werden. Da die Staatsanwaltschaft verpflichtet ist, Anhaltspunkten für eine mögliche Wiederholungsabsicht nachzugehen, können bereits sehr wenige Ausnahmefälle einen Anfangsverdacht begründen und zur Einleitung eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens mit Vernehmungen und Durchsuchungen führen.

Das scharfe Schwert des Strafrechts ist die ultima ratio des Rechtsstaats. Zu diesem scharfen Mittel darf der Staat nur dann greifen, wenn sich Gefahren für wichtige Rechtsgüter tatsächlich empirisch feststellen lassen. An einer solchen Gefährdung fehlt es im Bereich der Suizidhilfe ersichtlich. Die Fallzahlen in den Staaten, in denen die ärztliche Suizidhilfe ausdrücklich erlaubt ist, bewegen sich auf einem konstant niedrigen Niveau. Im wertneutralen Staat des Grundgesetzes verbietet es sich, bestimmte moralische Einstellungen, über die in der Gesellschaft kontrovers diskutiert wird, mit dem Mittel des Strafrechts gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen. Dies zerstört den Rechtsfrieden in unserem Land und schwächt das Vertrauen der Menschen in den demokratischen Rechtsstaat.

Deshalb möchten wir Sie und euch auch im Interesse unserer Ärzt*innen darum bitten, einen unserer beiden Gesetzentwürfe – den Gesetzentwurf Hintze/Wöhrl/Dr. Reimann/Prof. Lauterbach/Lischka oder den Gesetzentwurf Künast/Dr. Sitte/Gehring – zu unterstützen. Wer dies nicht möchte, zugleich aber auch Bedenken bezüglich einer Strafrechtsverschärfung hat und den derzeitigen Rechtszustand zum Schutz unserer Ärzte lieber beibehalten möchte, muss in allen Abstimmungen mit „Nein“ stimmen. Da Enthaltungen ersatzlos wegfallen, nützen sie der größten Gruppe. Im Gegensatz dazu kann mit einer „Nein“-Stimme eine Strafverschärfung verhindert werden.

Auch diejenigen unter Ihnen und euch, die den Gesetzentwurf Brand/Griese unterzeichnet haben und wegen der strafrechtlichen Folgen für unsere Ärzt*innen nunmehr Zweifel hegen, haben die Möglichkeit, mit „Nein“ zu stimmen.

Für Rückfragen stehen wir Ihnen gerne unter der Tel.-Nr. 71914 (Büro Renate Künast, Ansprechpartner: Simon Pabst) zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

Renate Künast, Dr. Petra Sitte, Kai Gehring

Peter Hintze, Dr. Carola Reimann, Dr. Karl Lauterbach, Burkhard Lischka, Dr. Kristina Schröder, Dagmar Wöhrl, Arnold Vaatz

 

PDF:

Gemeinsamer_Appell_zur_Suizidhilfe